Günter Langen hat sich noch vor kurzem kaum in einer Hausgemeinschaft im Betreuten Wohnen gesehen. Aber wer ihn heute im Kreise seiner neuen Nachbarn erlebt – oder auf seinem Balkon mit Blick auf die Kugelsburg –, spürt sofort, dass hier jemand sicher ist, dass er etwas richtig gemacht hat. Er weiß aus Erfahrung, dass im Leben oft alles ganz anders kommt. In Bonn geboren und im Bergischen Land aufgewachsen, lebt der gelernte Elektriker seit 1969 in Volkmarsen. Er macht keinen Hehl daraus, dass sein neues Zuhause im Haus Wittmar das Ergebnis eines tragischen Lebenseinschnitts ist: „Unsere Töchter leben mit ihren Familien in Saarbrücken und Erfurt. Wir hatten uns ganz auf einen ruhigen, neuen Lebensabschnitt eingestellt, als meine Frau ganz unerwartet verstarb. So wurde ich praktisch von einem Tag auf den anderen zu einem „Modellfall” für das Betreute Wohnen. Klar, das Angebot ist hier kleiner als in vielen Großstädten. Aber diesmal passierte es beim Frisör: Ich wurde spontan angesprochen. Eine Wohnung im Haus Wittmar sei frei, ob ich nicht Interesse hätte. – Nun stehe ich hier, und muss sagen: Wir sind eine Gemeinschaft von Leuten, die vieles verbindet – einfach als Volkmarsener. Meine Skatschwester Inge Mangesius und ich können sogar auf eine jahrelange Freundschaft gemeinsam mit unseren verstorbenen Ehepartnern zurückblicken.”
Inge Mangesius wirkt – rückblickend auf ein bewegtes Leben mit vielen Stationen – sehr entschlossen: „Dies ist mein neunzehnter Wohnsitz und auch mein letzter.” Die gebürtige Breslauerin, einziges weibliches Mitglied in der nachbarschaftlichen Skatrunde, hat wie die verstorbene Gattin von Herrn Langen im Krankenhaus gearbeitet, „in der Männerabteilung”, wie sie sofort hinzufügt. In den Fünfziger Jahren hatte sie in der DDR als 14-jähriges Flüchtlingsmädchen den Beruf des Drehers gelernt. „Da habe ich bereits gelernt, mit Männern umzugehen.” Nach einer weiteren Ausbildung zur Technischen Zeichnerin floh sie 1955 erneut: „Nach Volkmarsen. Ab dann bewegte sich mein Leben in ruhigeren Bahnen – und ich bin froh, dass ich jetzt hier bin.”
Die Eheleute Wilfried und Dolores Gude sind eine aparte Kombination aus örtlicher Verwurzelung und gelebtem Weltbürgertum. Wilfried Gude hat vier Jahrzehnte im Wolfhagener Katasteramt gearbeitet, 30 Jahre davon mit viel Publikumskontakt, er begleitete unzählige Gruppen auf Führungen. Daneben engagierte er sich in der Kommunalpolitik:
„Hier hatte ich auch ersten Kontakt zum DRK-Projekt Haus Wittmar. Ausschlaggebend für mich persönlich war meine Herzerkrankung. Körperliche Anstrengungen fielen mir immer schwerer. Aber ich wollte geistig aktiv bleiben, gebraucht werden und daher meine Kontakte hier vor Ort pflegen. Ich gehöre zu den seltenen Menschen, die beruflich 40 Jahre an ein und derselben Stelle verbracht haben – und immer in Wolfhagen und Umgebung gelebt haben. Mein Vater ist im Krieg gefallen, ich habe ihn nur einmal 14 Tage lang erlebt. Meine Schwester ist mit 22 gestorben. So hat mein großer Bekanntenkreis wohl auch ein wenig die Familie ersetzt, die immer sehr international orientiert war: meine Mutter als gestandene Hanseatin, aber vor allem auch ihr Bruder, der schon 1923 nach Amerika emigriert war. Er beherrschte sieben Sprachen und wurde schließlich Empfangschef in einem der größten New Yorker Hotels.”
Dolores Gude hat ihren Mann kennengelernt, als sie als Touristin auf einer Europareise über Österreich, Italien und England auch nach Deutschland kam. Hier lernte sie über eine Freundin ihren Mann kennen. Ganz offenkundig war sie gern dazu bereit, ihren Beruf und ihr bisheriges Leben in ihrer Heimat aufzugeben und ein neues Leben zu beginnen. Die Herkunft von Dolores Gude sprengt endgültig den lokalen und regionalen Rahmen. Hinter dem hispanischen Namen verbirgt sich eine Asiatin aus einer ebenfalls international orientierten Familie:
„Ich komme von den Philippinen, wo ich zuletzt 16 Jahre lang als Lehrerin in Manila gearbeitet habe. Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen, mit einem Bruder und zwei Schwestern, von denen eine auch in Europa lebt, in England, an der Ostküste. Natürlich sind auch mir die Kontakte zu meinen weit entfernten Verwandten sehr wichtig. Und Sie können ganz sicher sein: Auch in England, den USA und auf den Philippinnen spricht es sich bereits herum, dass mein Mann und ich uns hier im Haus Wittmar sehr wohl fühlen.”
Therese Rest ist 1945 mit dem Pferdewagen mit ihren Eltern aus Schlesien nach Volkmarsen gekommen. Hier lernte sie ihren Mann kennen, mit dem sie einen Hof betrieb, bevor er zu einem großen Straßenbaubetrieb ging. Vier Kinder hat sie in ihrem großen Haus großgezogen. „Es war nicht leicht, das alles aufzugeben”, beschreibt sie die Situation, als ihre Kinder Ihr vom neuen Haus Wittmar erzählten. Nach langem Zögern und mehreren Anläufen attestiert sie ihnen heute: „Die Kinder haben alles richtig gemacht. Ich glaube, es wäre der größte Fehler meines Lebens gewesen, wenn ich ihren Vorschlag nicht angenommen hätte. Sie haben auch alles ganz toll vorbereitet. Ich brauchte nur noch einzuziehen. Außerdem wohnen sie ja alle in der Nähe, so dass wir uns oft sehen können.”
Hermann Wagener kommt wie Frau Rest aus der örtlichen Landwirtschaft. Mit 70 Jahren ist er im Bereich Betreutes Wohnen der Jüngste. Lange arbeitete er unter anderem bei einer Supermarktkette und im Sägewerk, nicht ohne nebenbei auch noch den Hof zu versorgen. Aber nun fühlt er sich im Ruhestand in seinem neuen Zuhause sichtlich wohl:
„Es war der richtige Zeitpunkt, denn es wurde einfach zu viel. Und nun habe ich das gute Gefühl, auch schon für die Zukunft gut vorgesorgt zu haben. Wer weiß, wie es mir in zehn Jahren gehen wird. So kenne ich schon das Service- und Pflegepersonal – das übrigens sehr gut ist (!) – für den Fall, dass ich einmal die weiteren Leistungen hier im Haus in Anspruch nehmen muss. Und im übrigen bin ich ein geselliger Mensch und fühle mich sowohl in Volkmarsen als auch in der Hausgemeinschaft sehr wohl.”